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Was das Coronavirus im Körper anrichtet

Dass Herz-Kreislauf-Patienten durch das Coronavirus besonders gefährdet sind, weiss man mittlerweile. Weshalb, ist noch immer zu grossen Teilen unklar. Im Interview erklären die beiden Kardiologie-Chefärzte Prof. Stephan Windecker und Prof. François Mach, welche Fragen man nun in einem grossen nationalen Forschungsprojekt klären will.

Die erste grosse Corona-Infektionswelle ist überstanden. Wie sah die Situation in Ihren Spitälern aus? 
Prof. François Mach: Zwischen Ende Februar und Mitte April hatten wir am Genfer Universitätsspital einen sehr starken Anstieg an Patienten. Den Höhepunkt erlebten wir Anfang April. Ungefähr 500 COVID-19-Erkrankte lagen bei uns im Spital, davon mussten rund 60 Personen gleichzeitig künstlich beatmet werden. Das Spital war gut darauf vorbereitet. Wer es nötig hatte, kam auf die Intensivstation, niemand musste verlegt werden. Wir nahmen sogar Patienten aus dem Ausland auf. 
Prof. Stephan Windecker: Die West- und Südschweiz waren viel stärker betroffen als wir. Bei uns am Berner Inselspital zeigte sich eine ganz andere Situation, wir hatten nie so hohe Patientenzahlen wie in Genf. Während der schlimmsten Zeiten waren es ungefähr 50 Personen mit COVID-19, auf der Intensivstation etwa 28. Wir erreichten daher nie die Kapazitätsgrenze und konnten uns sehr gut auf die Situation einstellen. Auch wir nahmen Patienten aus anderen Regionen der Schweiz und Frankreich auf.

Coronavirus
Weil die Gefässe betroffen sind, trägt die Herz-Kreislauf-Forschung zur Behandlung von COVID-19 bei.

Weshalb die Unterschiede? 
Mach: Das Universitätsspital Genf wurde zu einem COVID-19-Spital erklärt. Dies bedeutete, dass wir alle COVID-19-Patienten aus der Region aufnahmen. Im Gegenzug übernahmen private Kliniken in der Umgebung die nicht infizierten Patientinnen und Patienten, beispielsweise jemanden mit einem Beinbruch.
Windecker: Genf ist sehr dicht bevölkert. Je höher die Bevölkerungsdichte, desto grösser ist das Ansteckungsrisiko, dieser Zusammenhang ist nachweisbar. Der Grenzverkehr mit Frankreich spielte sicher eine zusätzliche Rolle.

Waren die Massnahmen gegen die Epidemie aus Ihrer Sicht angemessen?
Mach:
Anfang März wurde entschieden, den Genfer Autosalon abzusagen. Das war hart, die Hälfte der Autos waren schon eingetroffen. Aber hätte man dies nicht getan, wäre es katastrophal gewesen. Denn in dieser Zeit sorgten Grossanlässe für die enorme Verbreitung des Coronavirus, die freikirchliche Fastenfeier in Mulhouse oder der Fussballmatch zwischen Bergamo und Valencia beispielsweise.
Windecker: Die Schweiz war stark betroffen. Trotzdem können wir hierzulande von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Erstens war unser Gesundheitssystem nie überlastet und zweitens hat der Bundesrat früh und gut koordiniert reagiert. Im Nachhinein kann man immer darüber diskutieren, ob man rechtzeitig reagiert hat oder nicht.
Mach: Im Gegensatz zu anderen Ländern ist bei uns niemand aus dem Gesundheitssystem an COVID-19 gestorben. Alle Schutzmassnahmen haben also sehr gut funktioniert. Allein am Universitätsspital Genf arbeiten 13'000 Menschen. Einige sind erkrankt und mussten nach Hause in die Quarantäne. Aber niemand musste hospitalisiert werden.

Prof. Windecker
«Menschen mit Herz-Kreislauf-Risiken haben aufgrund einer generalisierten Entzündung und Blutgerinnselbildung ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf.» Prof. Windecker

Und die Kardiologie, wie funktionierte diese?
Mach: Während zweier Monate durften wir neben den COVID-19-Patienten nur noch die kardiologischen Notfälle behandeln. Für alle anderen Patienten waren unsere Türen geschlossen. 
Windecker: Auch wir konnten nur sehr dringliche Fälle oder Notfälle behandeln. Dadurch reduzierte sich unsere Aktivität für eine gewisse Zeit auf etwa 50 bis 60 Prozent des Normalbetriebs.

Es gab Berichte, dass in der ersten Zeit der Corona-Epidemie die Herznotfälle abnahmen, also weniger Menschen mit einem Herzinfarkt im Spital behandelt wurdenWar dies bei Ihnen auch der Fall?
Mach: Ja. Verglichen mit den Jahren zuvor hatten wir deutlich weniger Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom. Die genaue Erklärung dafür haben wir nicht. Gewisse Patienten kamen wohl aus Angst vor einer Ansteckung nicht ins Spital, davon sind einige zu Hause verstorben. Wiederum andere tauchten bei uns erst spät mit einer bereits beeinträchtigten Pumpfunktion des Herzens auf. Wir gehen davon aus, dass sich bei ihnen vor Tagen oder Wochen ein Herzinfarkt ereignete und sie sehr lange gewartet hatten, bis sie uns konsultierten. 

Windecker: Eine europäische Umfrage zeigt einen Rückgang von 30 bis 50 Prozent. Doch die regionalen Unterschiede sind gross. Bei uns in Bern war der Rückgang zum Glück viel geringer. Aber auch wir sahen Patienten, bei denen wir das flaue Gefühl hatten, sie seien aus Angst sehr spät bei uns erschienen.

Hat sich die Situation unterdessen normalisiert?
Windecker:
Die Behandlung der Herznotfälle hat sich rasch normalisiert. Bei den geplanten Eingriffen ist die Situation anders. Auch hier, und das ist nachvollziehbar, reagieren gewisse Patienten mit starken Ängsten und wollen nicht für einen Eingriff ins Spital. Dies wird wohl noch eine Zeit andauern. 

Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden schon früh zu den Risikogruppen gezählt. Was weiss man heute darüber?
Windecker:
Patienten mit Herz-Kreislauf-Krankheiten haben ein höheres Risiko, an COVID-19 schwer zu erkranken oder zu sterben, dies ist gut dokumentiert. Wir verstehen hingegen noch nicht genau, wie es dazu kommt. Das Corona-Virus, davon gehen wir aus, wird über die ACE2-Rezeptoren über die Atemwege und die Lunge aufgenommen. Es kann die Lunge jedoch verlassen und sich über die Gefässe im Körper verbreiten. Beobachtet wurde, dass sich die Innenschicht der Gefässe, das Endothel, entzünden kann und dass sich Blutgerinnsel bilden können. Es ist also nicht nur die Lunge betroffen. Gefässschäden im ganzen Körper führen dazu, dass verschiedene Organe, also Nieren, Herz und so weiter, schliesslich versagen. 

Was bedeuten diese Erkenntnisse für Herz-Kreislauf-Patienten?
Windecker:
Menschen mit Herz-Kreislauf-Risiken haben teilweise geschädigte Gefässe. Aufgrund einer generalisierten Entzündung und Blutgerinnselbildung haben sie ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Gut behandelte Herz-Kreislauf-Patienten wären hingegen besser geschützt. Aber dies sind momentan Hypothesen.
Mach: Um es noch einmal klarzustellen, Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben kein höheres Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken. Wenn sie mal angesteckt sind, dann haben sie ein grösseres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf, wahrscheinlich aufgrund der massiven Entzündung im ganzen Körper, wie dies Prof. Windecker beschrieben hat. Wie wir diesen Entzündungsprozess angehen, hoffen wir in den nächsten Monaten herauszufinden.

Prof. Mach
«Wir erhalten sehr wertvolle Daten, die uns bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Patienten mit COVID-19 weiterhelfen.» Prof. Mach

Welche Rolle spielt die kardiologische Forschung bei der Behandlung dieser Viruserkrankung?
Windecker:
Weil die Gefässe betroffen sind, trägt unser kardiovaskuläres Wissen viel dazu bei, die Krankheit besser zu behandeln. Eine mögliche Strategie ist, das Endothel vor Entzündungen zu schützen mit entzündungshemmenden Medikamenten. Eine weitere Strategie wäre, die Bildung von Gerinnseln mit Gerinnungshemmern zu mindern.
Mach: Eine gute Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren schützt, da stimme ich voll zu. Ein Risikofaktor jedoch bleibt ein grosses Problem, und zwar starkes Übergewicht. 80 Prozent der Patienten, die wir in Genf beatmen müssen, sind übergewichtig. Wenn Sie eine Lungenentzündung haben und übergewichtig sind, haben Ihre Lungen grössere Schwierigkeiten zu atmen. Ausserdem ist Ihr Thromboserisiko stark erhöht. Dies trägt dazu bei, dass beispielsweise in den USA deutlich mehr Menschen wegen COVID-19 hospitalisiert werden müssen und wahrscheinlich sterben als bei uns.

Wie reagiert die Schweiz auf die Probleme, die das Corona-Virus verursacht?
Windecker: Gerade weil Herz-Kreislauf-Patienten besonders betroffen sind, haben sich die Universitätsspitäler und grosse Kantonsspitäler schon früh darüber ausgetauscht, wie sie die Probleme gemeinsam angehen wollen.
Mach: Beispielsweise mit einem grossen nationalen Forschungsprojekt. Wir sind sehr dankbar, dass uns neben dem Schweizerischen Nationalfonds auch die Schweizerische Herzstiftung mit ihren Gönnerinnen und Gönnern sofort unterstützt haben.

Was möchten Sie in diesem Forschungsprojekt herausfinden?
Windecker: Wir sammeln in den nächsten sechs Monaten die Daten von allen Patientinnen und Patienten, die wegen eines akuten Herzproblems hospitalisiert werden. Dann vergleichen wir diejenigen, die an COVID-19 erkrankt sind, mit solchen, die nicht infiziert sind. Wir wollen so herausfinden, wie die Krankheit in diesen beiden Gruppen verläuft, also wie das Coronavirus den Gesundheitszustand bei einem akuten Herzproblem verschlechtert. Gleichzeitig wollen wir wissen, welche Faktoren darauf einen Einfluss haben. Auch möchten wir klären, inwiefern die Corona-Pandemie die Behandlung des Herznotfalls beeinträchtigt.

Was nützt den Patientinnen und Patienten eine solche Studie?
Mach: Wir erhalten sehr wertvolle Daten, die uns bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Patienten mit COVID-19 weiterhelfen. Wir können klären, wie wir COVID-19-Patienten mit einer akuten Herzerkrankung nach dem Eingriff behandeln müssen. Beispielsweise welche Medikamente wir einsetzen oder vermeiden sollten.
Windecker: Die Studie hilft uns vor allem auch, für eine nächste Pandemie besser gerüstet zu sein, also dafür zu sorgen, dass Herz-Kreislauf-Patienten dann möglichst gut behandelt werden. Wir haben schon aus vergangenen Epidemien gelernt, insofern ist diese Studie ein weiterer Baustein.
Mach: Die Erkenntnisse sind jetzt schon von enormem Wert, sollte die Corona-Epidemie länger als befürchtet andauern. Denn wir wissen noch nicht, ob Menschen nach einer überstandenen COVID-19-Erkrankung vor einer erneuten Infektion geschützt sind. Auch wissen wir noch nicht, ob ein zukünftiger Impfstoff alle Menschen gleich gut schützt und wie lange der Impfschutz anhält.

Was hat Sie als Arzt in dieser Corona-Krise überrascht?
Windecker: Mich hat erstaunt, wie alle bemüht sind, unser Wissen rasch voranzubringen. Also Regulierungsbehörden, Ethikkommissionen und die Wissenschaft. Ein neuer Antikörpertest wurde innert weniger Wochen von den amerikanischen Behörden zugelassen. Ebenso wurden klinische Studien zwecks Untersuchung von Medikamenten rasch und unbürokratisch umgesetzt. Neben allen körperlichen Folgen dürfen wir auch nicht unterschätzen, welchen Einfluss diese Pandemie auf die psychische Gesundheit hat. Dies werden wir erst in den nächsten Monaten und Jahren erfahren. Die Massnahmen sind ja nicht nur für Erkrankte, sondern für die gesamte Bevölkerung einschneidend.
Mach: Was sich vor unserer Haustüre im italienischen Bergamo abgespielt hatte, war sehr dramatisch. Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal starben. Dies war wohl ein Grund dafür, dass hier rasch alle an einem Strick zogen. Ich war beeindruckt, wie der ganze Gesundheitssektor offen und klar reagierte. Deshalb waren wir in der Schweiz recht erfolgreich. Nicht alles war perfekt, aber wir werden hoffentlich weiter daraus lernen.

Welche Hoffnungen haben Sie im Kampf gegen COVID-19?
Mach:
Es tönt vielleicht banal. Aber es geht die Hoffnung um, dass sich das gefährliche Coronavirus künftig in unserem Körper wohler fühlen wird. Möglicherweise wird es sich den menschlichen Zellen anpassen, mutieren und weniger aggressiv werden.
Windecker: Abgesehen davon hoffen wir, dass es bald eine wirksame Impfung geben wird. Dies ist die griffigste Methode, mit der wir dieses Problem aus der Welt schaffen.

COVID-19 BESSER ERFORSCHEN

Die Schweizerische Herzstiftung unterstützt mit einem Betrag von 800'000 Franken zwei nationale Forschungsprojekte, die den Einfluss von COVID-19 auf Herz und Gehirn erforschen. Die vom Inselspital Bern koordinierte Studie schliesst Patientinnen und Patienten ein, die mit einem akuten Herzproblem hospitalisiert werden, beispielsweise mit einem Herzinfarkt, einer Herzrhythmusstörung oder einer Herzschwäche. An der Studie beteiligen sich alle Universitätsspitäler sowie sechs Kantons- und Stadtspitäler. Eine zweite Studie analysiert die Patientendaten sämtlicher Hirnschlagzentren der Schweiz. Beide Forschungsprojekte befassen sich zudem mit der Frage, ob die Corona-Pandemie und die Massnahmen des Bundes einen Einfluss auf die Notfallbehandlung der Patienten hatten.

Artikel aus unserem Magazin HERZ und HIRNSCHLAG, August 2020


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